"Heliographie" aus dem Jahr 1826 von Nicéphore Niépce: Dächer und Gebäude eines landwirtschaftlichen
Hofs in Gras bei Chalon-sur-Saône.
Die älteste bekannte und erhaltene Photographie.
(Alle Abbildungen: Wikipedia)
I
Ein naiver Blick auf unsere Welt ist in Zeiten grenzenloser Bildüberflutung wohl eine romantische Vorstellung: Man schließe die Augen, lasse sein optisches Gedächtnis einmal hinter sich und versuche, die Dinge vorurteilsfrei und vollkommen neu zu sehen. Es wäre vielleicht wie das Erstaunen vor den gemalten, später auch fotografierten Bildwelten einer „Laterna Magica“, mit denen Schausteller einst auf Jahrmärkten, Messen oder im Varieté ihr Publikum unterhielten: ein neugieriger Augenaufschlag der Phantasie vor den „Geisterbildern“ einer Projektionskunst, die erst mit der Entwicklung der Kinematographie ihre Bedeutung verlor.
Die Entgrenzung der zeitlichen Dimension dieser Abbilder durch die Illusion der Bewegung im Film erhöhten den Realitätsgrad des Gezeigten um ein Vielfaches. Bekannt sind etwa die Reaktionen der überforderten Betrachter eines Films von Lumière mit dem Titel Der ankommende Zug. Je näher sich dieser auf den festen Kamerastandpunkt und gleichsam auf den Betrachter hinzu bewegte, zog man im Publikum die Köpfe ein, weil man befürchtete, im nächsten Moment überrollt zu werden. Es ist nicht bloß die Emphase des Neuen, mit der sich diese Form einer technischen Aneignung von Wirklichkeit hier so wirkmächtig und geradezu bedrängend inszeniert, das panische Empfinden gehört vielmehr zum Glauben an die Echtheit der realistisch wirkenden Bewegung, die doch lediglich eine Abfolge von sukzessiv fotografisch erfassten Einzelbildern darstellt. Die Kamera reproduziert hier noch als homogener Zeuge die Bedingungen der vertrauten Sicht. Ihr fester Standpunkt ist der des Betrachters im Publikum. Der Unterschied zu Malerei und Photographie besteht hingegen darin, dass hier keine Bilder mehr erzeugt werden, sondern visuelle Halluzinationen von Raum und Zeit. …
II
Es ist vielleicht nicht unbedeutend zu erwähnen, dass Lumière das zu seiner Zeit noch wichtigste Transportmittel für sein Filmexperiment wählt. Die Industrialisierung von Raum und Zeit liegt weit vor der Erfindung des Films als massentaugliches Medium: Die Eisenbahn ist im 19. Jahrhundert in einem sehr konkreten Sinn Symbol eines technischen und gleichermaßen sozialen Fortschritts. Andererseits ersetzt Geschwindigkeit schlechthin das gewohnte soziokulturelle Zeitmaß tiefgreifend durch ein rein mathematisches. Der Wechsel vom Fußgänger zur Kutsche und schließlich zur Eisenbahn konfrontiert den Reisenden mit dem Verlust des als „lebendige Kontinuität erfahrenen Reiseraums“ (Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise), wie es einige Zeitgenossen empfunden haben.
So wird für Heinrich Heine die Eröffnung der Bahnlinien von Paris nach Rouen und Orléans im Jahr 1843 von einem „unheimlichen Grauen“ begleitet: „Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unserer Anschauungsweise und in unseren Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahn wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig. … Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt! Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Tür brandet die Nordsee.“
Der Vernichtung von Raum und Zeit entspricht ein schleichender Wandel der Sehgewohnheiten, die sich der Reizqualität von Geschwindigkeit annähern. Georg Simmel wird diesen Prozess später als eine wesentliche Grundkonstante seiner Zeit beschreiben. Mit der „Steigerung des Nervenlebens“ bezeichnet er die Herausbildung einer großstädtischen Wahrnehmung, „die aus dem raschen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht.“ (Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, 1903). Ein wesentlicher Aspekt, den die Künstler der klassischen Moderne (Expressionismus/Kubismus/Futurismus) produktiv aufnehmen werden und der auch in der Photographie und im Film zu Experimenten mit neuen ästhetischen Ansätzen (Simultaneität, Mehrfachbelichtung, ungewöhnliche Perspektiven) führen wird.
Im Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit verschiebt sich diese Perspektive schließlich in ein ins Irreale potenziertes Raum-Zeit-Gefüge: Das Internet ist uns zu einer zweiten Wirklichkeit geworden, in der wir Räume in einem Sekundenbruchteil scheinbar mühelos und unmerklich durchqueren wie eine fremde Galaxie. Die Welt bleibt verfügbar, solange wir ihr auch virtuell gewachsen sind. Der einst real erfahrene Reiseraum wird durch einen aus Bits und Bytes ersetzt. Damit haben wir uns von den Objekten der photographischen Reproduktion bereits weit entfernt. Das Medium selbst ist zur Message geworden. Geblieben ist der naive Glaube an die Wahrheit der Bilder, die bei Lumières Publikum hingegen noch Staunen und Erschrecken auslösten.
Honoré de Balzac,
Daguerrotypie von Nadar
aus dem Jahr 1842
III
… mit einem Gedächtnis begabte Spiegel …
Beaumont Newhall
(1908-1993)
Staunen und Erschrecken begleiten die Anfänge der Photographie. So erinnert sich der Vater des Dichters Max Dauthendey an seine ersten Empfindungen beim Anblick einer Abbildung im Stile Daguerres: „Man getraute sich zuerst nicht, die … Bilder, die er anfertigte, lange anzusehen. Man scheute sich vor der Deutlichkeit dieser Menschen und glaubte, daß die kleinen winzigen Gesichter der Personen, die auf dem Bilde waren, einen selbst sehen könnten, so verblüffend wirkte die ungewohnte Deutlichkeit und die ungewohnte Naturtreue der ersten Daguerrotypien auf jeden.“ (zitiert nach W. Benjamin; Kleine Geschichte der Photographie, 1931) Die geringe Lichtempfindlichkeit der frühen Photoplatten erforderte eine lange Belichtungszeit. Die außerordentliche Intensität des Ausdrucks der ersten Lichtbilder, ergibt sich vielleicht durch das lange Stillhalten der Modelle, wobei ihnen spezielle Klemmvorrichtungen und Stützen halfen. Es ist kein flüchtiger Moment, der hier festgehalten wird, sondern eine konzentrierte Dauer. „Das Verfahren selbst veranlasste die Modelle, nicht aus dem Augenblick heraus, sondern in ihn hinein zu leben; während der … Aufnahmen wuchsen sie gleichsam in das Bild hinein … Alles an diesen frühen Bildern war angelegt zu dauern.“ (ebd.)
L.J.M. Daguerre in einer Portraitaufnahme
von Jean-Babtiste Sabatier aus dem Jahr 1844
IV
Im Jahr 1826 gelingt Nicéphore Niépce das erste dauerhaft auf einer mit Asphalt bestrichenen Zinnplatte fixierte Bild. Die Belichtungszeit für diese „Heliogravure“ beträgt acht Stunden, noch zu lange für Aufnahmen von Menschen oder sich bewegenden Gegenständen. Das bis heute erhaltene Photodokument zeigt schemenhaft die mit einer camera obscura aufgenommene Ansicht eines landwirtschaftlichen Betriebes in der Ortschaft Gras. Gemeinsam mit Louis J.M. Daguerre, Theatermaler und Erfinder des so genannten „Dioramas“ (1822 in Paris eröffnet), wird Niépce bis zu seinem Tod im Jahr 1833 an einer Perfektionierung arbeiten. Daguerre gelingt es schließlich vier Jahre später ein Verfahren zu entwickeln, dass mit wesentlich kürzeren Belichtungszeiten auskam (vier Minuten im Sommer, 15 Minuten im Winter). Die Belichtung einer Jodsilberplatte ließ zunächst ein latentes Bild entstehen, dass sich durch die Bedampfung mit Quecksilber dauerhaft sichtbar fixieren ließ.
Die Abbildungsleistungen sind erstaunlich. Als die Wissenschaftler Arago und Gay-Lussac 1839 den Ankauf der Erfindung Daguerres durch die französische Regierung unterstützten, rühmten sie dessen „mathematische Genauigkeit“.
Die erste, heute noch erhaltene Daguerrotypie zeigt ein Stilleben, das 1837 im Atelier des Photographen aufgenommen wurde.
Daguerrotypien sind Unikate, ein gewisser Mangel, der einer breiten Kommerzialisierung erst einmal im Wege steht. Die Photographie bleibt zunächst etwas für die besseren Kreise der Gesellschaft. Das änderte sich erst mit der Möglichkeit ihrer Vervielfältigung, wie sie der englische Edelmann und Privatgelehrte William Henry Fox Talbot fast zeitgleich zu den Experimenten der französischen Pioniere der Photographie entdeckte. Sein Papier-Negativ-Postiv-Verfahren, das er „Kalotypie“ nennt, lieferte hingegen eine weitaus schlechtere Abbildungsqualität. Erst 1851 mit F.S. Archers nassem „Kollodiumverfahren“ und schließlich mit der bahnbrechenden Entwicklung von Trockenplatten (Richard Leach Maddox, 1871), die mit einer lichtempfindlichen Bromsilber-Gelatine-Schicht überzogen waren, wird eine Methode entwickelt, die hinsichtlich einer reproduzierbaren Qualität Maßstäbe setzen wird.
V
Ich will die Objekte so wiedergeben, wie sie sind
und wie sie wären, auch wenn ich nicht existierte.
Hippolyte Taine (1828-1893)
Die Naturtreue der photographischen Abbilder, die Fähigkeit der Kamera zu einer sachlichen Bestandsaufnahme, bei der unter einem Vergrößerungsglas betrachtet sogar Details zutage traten, die dem menschlichen Auge bislang verborgen waren, kommt den Tendenzen der Zeit entgegen: Ihr Tatsachenrealismus rückt sie in den Mittelpunkt der fortschrittlichen Kräfte in Kunst und Gesellschaft. Die Quelle der menschlichen Erkenntnis liege im Gegebenen, in den positiven Tatsachen, die sich mit wissenschaftlichen Methoden erfassen lassen, wie es die Denkrichtung des Positivismus (Auguste Comte: Über den Geist des Positivismus, 1844) formuliert. Es ist die gedankliche Orchestrierung zur fortschreitenden Industrialisierung.
Zur gleichen Zeit entwickelt sich die plein-air-Malerei als Gegenbewegung zur Romantik und dem Idealismus des akademischen Kunstbetriebs. Die Künstler-Bohème fühlt sich der Wahrheit verpflichtet und der gescheiterten 1848er Revolution. Courbet wird einer ihrer Leitsterne und der wichtigste Vertreter einer realistischen Malweise, die sich von den Konventionen der künstlerischen Auffassungen einer Feinmalerei befreit. Es sind dies Grenzüberschreitungen gegenüber dem Einfluss des Staates und der Kirche, gegen Historienmalerei und religiöse Sujets. „Indem ich das Ideal sowie alles ablehne, was daraus folgt, gelange ich zur vollen Selbstbefreiung des Individuums bis hin zur Verwirklichung der Demokratie. Der Realismus ist seinem Wesen nach die demokratische Kunst.“ (G.Courbet, 1861) Ein literarischer Höhepunkt dieser Bewegung wird unter anderem Flauberts Roman Madame Bovary (1857), der die Staatsanwälte im zweiten Kaiserreich unter Napoleon III. im Namen von Sitte und Anstand skandalträchtig auf den Plan ruft.
Tafel aus William Henry Fox Talbots Werk
"The Pencil of Nature", 1844
VI
Die Photographie, wie später der Film, steht mit ihrer eigenen verfahrenstechnischen Entwicklung in einem industriellen Verwertungszusammenhang, der den Charakter der frühen Aufnahmen weit hinter sich lassen wird. Nachdem Daguerres Erfindung einmal der Öffentlichkeit zugänglich war, schossen die Photoateliers nur so aus
dem Boden. Ein nicht ungefährlicher Beruf, dem hunderte von Photographen zum Opfer fielen, wenn sie die
giftigen Quecksilberdämpfe einatmeten oder mit ihren Chemikalien versehentlich Nitroglyzerin anrührten …
Weil der Zeitgeschmack der juste-milieu-Gesellschaft in einem scharfen Kontrast zu den Anschauungen des Realismus stand, versuchten viele „Kunstphotographen“ schon in den 1840er Jahren ihre Photographien den traditionellen Vorstellungen eines Kunstschönen anzupassen. Die verwendeten Hintergründe, Draperien sowie Utensilien wie Bücher und Globen oder Säulenimitate versetzten die Modelle in ein bizarres Interieur, das so austauschbar war wie ihre Posen und die erstarrte Mimik. Zu einem einträglichen Geschäft wurden die beliebten „Visitenkartenportraits“ des Pariser Photographen Disdéri, der 1857 auf diese Anwendung des Kollodiumverfahrens
in Frankreich ein Patent angemeldet hatte. Allein in England wurden im Zeitraum zwischen 1861 und 1867 mehr
als 300 Millionen dieser „Cartes de visite“ angefertigt.
VII
Die Photographie des 19. Jahrhunderts liefert den Subtext zur "Fotografie" von heute. Sie bringt uns nicht nur das Staunen nahe, mit dem die Photokünstler von einst ihre Aufnahmen unter weitaus schwierigeren Bedingungen anfertigten, als wir dies mit unseren technologisch hochgerüsteten elektronischen Kameras mit einem simplen Druck auf den Auslöser zu Wege bringen. Unser Respekt vor diesen Visionären der ersten Stunde steigt, wenn wir uns ihre handwerkliche Virtuosität in Erinnerung rufen, der es zu jener Zeit bedurfte, um zu photographieren. Nicht völlig frei von den Vorbildern der Malerei, waren die ersten "Lichtbildner" andererseits mit der experimentellen Erkundung der Darstellungsmöglichkeiten dieses neuen Mediums unterwegs zu ganz eigenen Wahrnehmungsformen, einer eigenen Ästhetik der photographischen Anschauung, die uns heute wie Wasserzeichen unserer visuellen Erinnerung erscheinen. leu
Hippolyte Bayard
Selbstbildnis als Ertrunkener, 1840
Der Pariser Finanzbeamte Bayard gehört zu den Pionieren der Photographie. 1839 erfand er das „Direktpositiv“ auf Papier. Hier klagt er ironisch mit einer inszenierten Aufnahme darüber, dass der französische Staat Daguerre protegiere, während man für ihn selbst nichts tun könne … Das Bild erinnert sehr an die berühmte Darstellung des ermordeten Marat in seiner Badewanne von Jacques Louis David (1793).
Sarah Bernhardt fotografiert von
Nadar (Félix Tournachon), 1860
Der Karikaturist und Revolutionär gehört zu den originellsten Pariser Portraitfotografen. Aufnahmen wie diese gehören zu Ikonen in der Geschichte der Photographie. Berühmt sind auch seine Luftaufnahmen sowie die Kunstlichtaufnahmen in den Katakomben von Paris. Die Impressionisten zeigten in seinem Atelier 1874 ihre erste Ausstellung.
Charles Baudelaires
Portrait von Étienne Carjat, um 1862
Der Karikaturist, Literat und Herausgeber von Zeitschriften eröffnet 1861 sein erstes Photoatelier. Die Präzision und Ausdruckskraft seiner Portraitaufnahmen können sich mit denen Nadars, der zu seinen Bewunderern zählte, messen. Auch diese Aufnahme des „ersten Dichters der Moderne“ ist im Laufe seiner Rezeption zu einer Ikone geworden.
Julia Margaret Cameron
Der Astronom Sir John Hershel
Die Aufnahme entstand 1867 in Collingwood/ England, dem Wohnsitz des Universalgelehrten
Die erste Photographin von Weltgeltung, in Kakutta geboren, zog mit ihrem Mann nach England, wo sie 1863 eine Kamera geschenkt bekommt und als Autodidaktin zu photographieren beginnt. In ihrem Atelier auf der Isle of Wight photographierte sie viele Persönlichkeiten ihrer Zeit.
Ihre Portraits orientieren sich an Rembrandts Malerei, oftmals leicht in Unschärfe verschwommen. Weitere Aufnahmen von Dienstmädchen und Nachbarskindern sind dem Zeitgeschmack gemäß eher präraffaelitisch inspiriert.1875 zog Cameron mit ihrem Mann nach Ceylon, wo sie gemeinsam eine Kaffeeplantage bewirtschafteten.
Frères Bisson
La crevasse, Besteigung des Mont Blanc, 1862
Das Pariser Atelier (ab 1852) der Brüder Bisson, Louis-Auguste und Auguste-Rosalie, gehörte lange Zeit zum Zentrum einer künstlerischen und intellektuellen Bohème. Ihr Unternehmen war so erfolgreich, dass sie zwischenzeitlich bis zu 30 Mitarbeiter beschäftigen konnten. Auf ihren ausgedehnten Reisen fotografierten sie vor allem bekannte Bauwerke in monumentalen Formaten. Die vorliegende Aufnahme gehört zu einer Serie, die Auguste-Rosalie von seiner zweiten Expedition zum Mont Blanc mitbrachte. Eine Landschaftsaufnahme, die in ihrer Bildauffassung geradezu modern erscheint.
I
War die Zeichnung oder Skizze in den akademischen Diskussionen zur Kunst in der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts geeignet, bloß als Wahrnehmungsstudie zu dienen, bei der sich das künstlerische Vermögen an der Nachahmung der Natur üben sollte, steht die Landschaftsmalerei für den frei schaffenden Genius des Künstlers, für Erfindung und Einbildungskraft, die sich von einer bloßen Nachahmung der Natur zu entfernen hatte. Die klassische Ateliermalerei hält sich nach den Vorgaben der Kunstlehre an genaue Kompositionsmuster. Durch die produktive Einbildungskraft des Künstlers stellt sich das Kunstwerk selbst über die Hervorbringungen der Natur, indem sie diese in einer harmonisierenden Komposition zur Vollendung bringt. In dieser Hinsicht äußert sich etwa Denis Diderot (1713-1784) in seinen Salon-Berichten (Kunstausstellungen im Salon Carré des Louvre, Paris) von 1763 und 1767 zu den Werken des Landschaftsmalers Claude-Joseph Vernet.
An der akademischen Kunstauffassung zur Landschaftsmalerei lässt sich der Zeitgeist an der Schwelle zum Industriezeitalter ablesen: Der Umgang mit der Natur durch genaues Studium macht sie zunächst verfügbar; sobald man in sie eingreift, indem man über ihre Elemente nach Maßgabe eines ästhetischen Konzepts frei verfügt, zeigt sich eine künstlerische Schaffenshöhe, die mit der Vollendung der Natur einen quasi-göttlichen Auftrag erfüllt. Fromm gestimmte Naturbetrachtung, wissenschaftlich inspirierte Beobachtung und eine kommerzielle Verwertung topografischer Abbildungen zeigen den selben Gestus eines Herrschaftsanspruchs, der sich Natur zu eigen macht.
Claude-Joseph Vernets Darstellungen von Meeresküsten mit Gewitterstürmen und Schiffbrüchen gehörten zu beliebten Sujets seiner Zeit. Übereinstimmungen in Charakter und Komposition der Darstellungen werden deutlich, wenn man die Werke zum Vergleich nebeneinander stellt. Der Ateliermaler arbeitet nach den Bedürfnissen des Marktes, was zu einer Manier in der Wiederholung ähnlicher Muster führt.
C.J. Vernet, Schiffswrack, 1759 (Quelle für alle Abbildungen: Wikipedia)
C.J. Vernet, Sturm an einer Mittelmeerküste, 1767
II
Die Encyclopédie von Diderot und d‘ Alembert stellt in den Abbildungen zum Artikel „Dessin“ (1763)
zwei Modelle einer Lochkamera (Camera obscura) vor. Die Konstruktionen als Tisch- oder Standversion verfügen über eine Verdunkelungsvorrichtung, ein Objektiv zur Projektion des Bildes und einen Spiegel, der das seitenverkehrte Bild umlenkt. Bei beiden Versionen steht der Zeichner mit dem Rücken zu der projezierten Landschaft, die er abbilden möchte. Erst die Entwicklung der Camera lucida um 1800, die aus einem Stativ und einem Glasprisma bestand, erlaubte nun auch das Zeichnen in Blickrichtung des Motivs. Beide optischen Systeme dienten einer exakten topographischen Wiedergabe. Die wesentlich flexiblere Camera lucida eignete sich besonders zur panoramatischen Erfassung von Landschaften und Städten, stand aber auch im Dienst kommerzieller Portraitzeichner.
Die technischen Apparaturen ermöglichten eine detailgetreue Vorlage für wissenschaftliche Zwecke ebenso wie für den zeichnenden Künstler. Den Charakter der Abbildungen bestimmte das Motiv: etwa der Ausschnitt einer Landschaft ohne kompositorische Abgrenzungen beziehungsweise Eingriffe in die Verteilung der Massen, ohne eine nach ästhetischen Maßgaben aufgezwungene Ordnung in Vordergrund, Bildzentrum und Hintergrund.
III
Das Myriorama (griech. „Zehntausendschau“), im Jahr 1802 von dem Naturforscher, Mediziner und Erzieher Jean-Pierre Brès in Paris entwickelt, liefert im Zugriff auf die Natur ein Pendant zur Ateliermalerei: Das Gesellschaftsspiel bestand aus 16 bis 24 bunt kolorierten Karten mit realistischen Landschaftsabbildungen, die sich in einem langen Streifen in beliebiger Anordnung zu einem Panorama gruppieren ließen. Möglich wurde dies durch eine Aufhebung harmonischer Begrenzungen an den Rändern der jeweiligen Bildelemente, die sich so passgenau in zahllosen Variationen zusammenfügen ließen. Das Legespiel, das zur Zeit des Biedermeier vor allem in England beliebt war, diente nicht nur zur Unterhaltung, sondern hatte als Anleitung zur Zeichnung von Landschaften und als Schule der Wahrnehmung im zeitgenössischen Verständnis auch einen hohen didaktischen Wert.
IV
Von den Prinzipien einer akademischen Landschaftsmalerei französischer und italienischer Prägung rücken die Zeichenstudien und Landschaftsgemälde von Caspar David Friedrich in Aufsehen erregender Weise ab. Geradezu revolutionär wirkte für die Zeitgenossen das in der Berliner Akademieausstellung von 1810 präsentierte Gemälde „Mönch am Meer“ (entstanden im Winter 1808/09). Vergleicht man die Komposition mit Darstellungen des Barock (Claude Lorrain) oder Seestücken des ausgehenden 18. Jahrhunderts (Vernet), auf denen die Landschaft wie ein Bühnenbild kulissenartig von schroff aufragenden Felsen, dichtbelaubten Baumgruppen oder Bauwerken zu den Seiten hin einen harmonischen Abschluss findet, bleibt der vornehmliche Eindruck dieses Bildes in einer unendlichen Weite und einer ungeheuerlichen Leere stehen: Kein Segel am Horizont, keine Personengruppen, die den Schauplatz beleben würden, keine mythologische oder arkadische Staffage, an die sich das betrachtende Auge heften könnte. Die Formprinzipien, mit denen Friedrich den Gehalt des Bildes anschaulich macht, bleiben nahezu ungegenständlich abstrakt: Fläche (waagerechte Streifen von Sand, Meer, Himmel) verdrängt Raumtiefe, es gibt keinen festen Bezugspunkt für das Auge (außer die Person des in sich gekehrten Mönchs als einziges vertikales Bildelement,
das aber zu klein ist, um die Horizontlinie zu überragen), Verzicht auf Linear-und Luftperspektive etc. … Friedrichs Landschaft bleibt betont gewöhnlich, ja geradezu beliebig, sodass ihm die zeitgenössischen Vorstellungen des Schönen und Malerischen kaum gerecht werden können.
Caspar David Friedrich, Der Mönch am Meer, 1809, Öl auf Leinwand, Berlin,
Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Nationalgalerie
Heinrich von Kleist hat diese kompositorischen Aspekte und den geradezu existentiellen Gehalt des Bildes eindrucksvoll assoziativ erfasst: „… das, was ich in dem Bilde selbst finden sollte, fand ich erst zwischen mir und dem Bilde, nämlich einen Anspruch, den mein Herz an das Bild machte, und einen Abbruch, den mir das Bild tat; und so ward ich selbst der Kapuziner, das Bild war die Düne, das aber, wohinaus ich mit Sehnsucht blicken sollte, die See, fehlte ganz. Nichts kann trauriger und unbehaglicher sein, als diese Stellung in der Welt … Das Bild liegt, mit seinen zwei oder drei geheimnisvollen Gegenständen wie die Apokalypse da, als ob es Youngs Nachtgedanken hätte, und da es, in seiner Einförmigkeit und Uferlosigkeit, nichts als den Rahmen zum Vordergrund hat, so ist es, wenn man es betrachtet, als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären. (Heinrich v. Kleist, Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft)
V
„Den Verzicht auf ein Arrangement und die Präsentation von einfachen Streifen teilen diese (im klassischen Sinne) ‚kompositionslosen‘ Landschaftsdarstellungen mit der neuen Gattung des Panoramas.“ (O. Bätschmann, Entfernung der Natur, Köln 1989) Letztere gehören hingegen zu einer Illusionierungstechnik, mit der in kommerzieller Absicht einzigartige Landschaftsbilder oder attraktive Stadtansichten präsentiert werden, die der Schaulust und dem Zeitgeschmack des Publikums entgegen kommen.
Im Juni 1787 meldete der irische Maler Robert Barker in Edinburgh ein Patent an, das er als „an entire view of any country or situation, as it appears to an observer turning quite round" umschrieb. Panorama-artige Bilder hatte es schon in früheren Zeiten gegeben, die vorwiegend wissenschaftlichen Zwecken dienten. Barker ließ sein Kunstobjekt denn auch wie eine technische Erfindung patentieren. Seine Landschaftsansichten gingen über das gewöhnliche Format der Tafelbilder hinaus, streckten sich zu einem fortlaufenden Halbrund und schließlich zu einem kompletten Bildkreis, in dessen Zentrum der Besucher die Szenerie auf einer Aussichtsplattform wahrnehmen sollte. In diesem Zusammenhang benutzte Barker das Kunstwort „Panorama“ (gr. pan = „all“ und horama = „Sicht“). Sein erster Versuch 1787 zeigte noch eine kleine Ansicht von Edinburgh, 1791 folgte dann „London from the Roof of the Albion Mills“. Die Rotunde von der russischen Flotte bei Spithead (1792) hatte schon einen Durchmesser von 30 Metern und brachte den kommerziellen Durchbruch. Schon 1793 konnte er eine feste Panorama-Rotunde am Londoner Leicester Square errichten. 1799 wurde die erste Rotunde in Paris eröffnet, im Jahr 1800 in Berlin, 1803 auf dem Hamburger Zeughausmarkt.
R. Barker, Panorama of London, 1791
In den zeitgenössischen Beschreibungen des Panoramas rücken die wahrnehmungspsychologischen Aspekte des neuen Unterhaltungsmediums in den Mittelpunkt: Betont wird die suggestive Wirkung auf den Besucher, der sich in das dargebotene Bild hineingezogen fühlt. Der Beobachter ist hingegen oftmals hilflos, da ihm zur Orientierung die gewohnten Bezugspunkte fehlen. Panoramen sind nicht für den ruhenden Betrachter gedacht, sondern auf einen flanierenden Besucher hin ausgerichtet, dem ein ruhelos schweifender Blick abgenötigt wird. Die erhöhte Reizdichte des Dargebotenen erregt noch ähnliche Schwindelgefühle wie wir sie von den Berichten der ersten Eisenbahnreisenden her kennen.
VI
… Am täuschendsten war der Brand von Edinburgh. Es brannte wirklich. Man sah bald die Flammen stärker hervorlodern, bald Wolken schwarzen Rauchs emporsteigen, und immer änderte sich der Anblick der ganzen Landschaft im Verhältnis dieser verschiedenen Beleuchtung, wie es die reelle Feuersbrunst nicht anders mit sich bringen würde. (Pückler-Muskau, 27. Januar 1827)
Die Panoramen werden zu Stätten einer nahezu vollkommenen Naturnachahmung. Um die optische Illusion zu perfektionieren, suchte man durch eine veränderliche Beleuchtung oder durch die Imitation von Geräuschen den Wechsel von Tageszeiten, den Mondaufgang oder etwa das Rauschen von Wasserfällen nachzubilden. Die Panoramen im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts weisen voraus auf die Illusionsmedien Kino (Tonfilm), Fernsehen und die digitale Bildtechnik von heute. Gemeinsam ist ihnen jener frappierende Täuschungscharakter, dem sich der Betrachter in einer Art Traumzwang kaum zu entziehen vermag. Während man mit den Panoramen die größten kommerziellen Erfolge feiert, arbeiten Nicéphore Niépce und Louis J.M. Daguerre an ihrer „Erfindung“ der Photographie. Daguerre ist ein Schüler des Panoramenmalers Prévost, dessen feste Aufführungsstätte sich in der Pariser Passage des Panoramas befindet; 1839 brennt das Etablissement ab. Im gleichen Jahr wird die Erfindung der „Daguerrotypie“ bekannt gegeben. (siehe auch: Walter Benjamin, Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts). leu