Pierrot blickt in sein Spiegelbild DSC4439 2


„Man sollte ihnen (den Clowns) … nicht voreilig eine Rolle, eine Funktion, einen Sinn zuweisen. Sie brauchen unsere Befugnis, nichts weiter als Unfug und Verspieltheit zu sein. Die Absichts- und Bedeutungslosigkeit sind für sie Heimatluft. Erst um den Preis dieser Vakanz, dieser ursprünglichen Leere können sie zu den Bedeutungen gelangen, die wir in ihnen entdeckt haben. Sie müssen eine enorme Menge Un-Sinn anhäufen können, damit dieser in Sinn übergehen kann. In einer dem Nützlichen verschriebenen Welt, die von einem engmaschigen Netz signifikanter Verhältnisse durchwoben ist, im praxisbezogenen Universum, wo alles schon seine Funktion, seinen Gebrauchs- oder Tauschwert hat, zerreißt der Auftritt des Clowns einige Netzmaschen und schlägt in die erstickende Fülle der festgeschriebenen Bedeutungen eine Bresche, durch die ein Hauch von Unruhe und Bewegung hereinwehen kann. Der 
Unsinn, dessen Bote der Clown ist, nimmt also in einem zweiten Schub den Wert einer Infragestellung an; er ist eine Herausforderung an die Unerschütterlichkeit unserer Gewißheiten. Dieser Anflug von Sinnlosigkeit zwingt uns, alles, was als notwendig galt, neu zu erwägen. So kommt der Clown gerade dadurch, daß er zunächst die Bedeutungslosigkeit selbst ist, zu der sehr hohen Bedeutung des Widerspruchs: Er zieht alle verabredeten Beziehungssysteme in Zweifel, er führt in die undurchdringlich scheinende Kohärenz der etablierten Ordnung die Leere ein, dank welcher der endlich von sich selber gelöste Zuschauer über seine eigene Schwerfälligkeit lachen kann. (Jean Starobinski, Portrait des Künstlers als Gaukler, Ffm. 1985)

 



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Nachtseiten

„ ... (Er) hatte in seinem ganzen Leben einen
ungemein folgsamen Schlaf, der sogleich kam,
wenn es ihm nur einfiel, die Augen zu schließen.
Er hat mich oft versichert, dass er nie geträumt
hätte. Dieses Glück behielt er bis an sein Ende
und sagte noch kurz vorher: Wenn er den ganzen
Tag geschlafen hätte, freue er sich doch auf die
Nacht. ...“ Heiner Müller

P.S.: Die lichte „Tagseite“, das Sonnenantlitz
des Brunnens erschien mir weniger ausdrucksstark,
ja fast schon zu sehr ein Sonntagsgesicht zur
touristischen Folklore. ... leu







Die „Nachtseite“ des Karlsbader
Brunnens in Bernkastel-Kues





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Ecce Homo


Als es da noch ein Gesicht gab, fanden wir es sympathisch. Für einen Augenblick stand es uns vielleicht mit seinem Lächeln im Sinn. Und vielleicht hatte es sogar etwas sehr Vertrautes, das wir bis zur nächsten Straßenecke mitnehmen konnten, bis es in Vergessenheit geriet und wir uns kaum mehr darauf besinnen mochten, wofür es stand und was es uns wohl sagen wollte. In den Gezeiten bis zur Kenntlichkeit verwelkt, horcht es nun stumm und ausdruckslos geworden in die Straße hinein, ob ihm noch jemand antwortet. …





Vom Kopf auf die Füße …


Paris, 11. Dezember 1841

„Jetzt, wo das Neujahr herannaht, der Tag der Geschenke, überbieten sich hier die Kaufmannsläden in den mannigfaltigsten Ausstellungen. Der Anblick derselben kann dem müßigen Flaneur den angenehmsten Zeitvertreib gewähren; ist sein Hirn nicht ganz leer, so steigen ihm auch manchmal Gedanken auf, wenn er hinter den blanken Spiegelfenstern die bunte Fülle der ausgestellten Luxus- und Kunstsachen betrachtet und vielleicht auch einen Blick wirft auf das Publikum, das dort neben ihm steht.

Die Gesichter dieses Publikums sind so häßlich ernsthaft und leidend, so ungeduldig und drohend, dass sie einen unheimlichen Kontrast bilden mit den Gegenständen, die sie begaffen, und uns die Angst anwandelt, diese Menschen möchten einmal mit ihren geballten Fäusten plötzlich dreinschlagen, und all das bunte, klirrende Spielzeug der vornehmen Welt mitsamt dieser vornehmen Welt selbst gar jämmerlich zertrümmern! Wer kein großer Politiker ist, sondern nur ein gewöhnlicher Flaneur, der (kümmert sich) ... um die Miene des Volks auf den Gassen, dem wird es zur festen Überzeugung, daß früh oder spät die ganze Bürgerkomödie ... mitsamt ihren parlamentarischen Heldenspielern und Komparsen ein ausgezischt schreckliches Ende nimmt ...“ Aus: Heinrich Heine, Lutetia

Lichte Traumphantasie oder „Traumsprechen an den hellen Tag“ (Klaus Briegleb), so könnte man Heines Schreibwelten etwas näher kommen, wenn man dies denn möchte ... Das Bild scheint mir merkwürdig zeitgemäß, auch an Heldenspielern und Komparsen fehlt es kaum, nur die Umsturzbefürchtungen – Heines ambivalente Haltung zum Frühsozialismus – gehören wohl ins Geschichtsbuch. Dafür liegt jetzt in vielen Gesichtern, wenn man genau hinschaut, eine Besorgnis erregende Müdigkeit, die einen beim Gedanken an unsere heutige „Bürgerkomödie“ überkommen mag. Das scheint mir eine bewusstlose Revolte auf Samtpfoten, die fast geräuschlos daher kommt und nichts als ein lähmendes Treibhausklima hinterlässt. Man stelle sich ein Theater vor, in dem die Bühnendarsteller ihr Publikum in den Zustand eines Wachkomas versetzen. So ließe sich das Stück zumindest sehr einvernehmlich miteinander "aussitzen". Nur „vom Ende her gedacht“ ist es noch nicht ausgemacht, ob es denn eine Komödie oder eine Tragödie sein wird. leu





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Babylonische Verwirrungen …

„Forum Köpenick“/Berlin 2013: „Ick hab doch jesaaacht, det is wat für Sie … ick hab et doch jesaaacht … “, kauderwelschte ein Lulatsch zu meiner Linken über meinen Kopf hinweg, als er meine Kamera entdeckte. „Mach ma blooß keene Uffnahme von MIA … Hey, ...ham se mal nen Eu…ro!!!“ Ich schob mich durch die Eingangstür und stand in einer Halle, die meine Vorstellungen bei Weitem in den Schatten stellte. Als Kind vom Lande ist man ja gewöhnt, dass in der großen weiten Welt alles noch etwas größer und weiter ist, als in der Provinz. Also „Herinnnspaziert“, wie mir der leicht angetrunkene Kumpan vom Eingang unter einer Verbeugung noch mit auf den Weg gegeben hatte, und so flanierte ich an einem „Fruit-Shop“ vorbei, wo gerade Apfelsinen entsaftet wurden, während das Preisbarometer für den gesunden Durstlöscher in die Höhe schoss und ich mich daran erinnerte, dass ich irgendwann in der Hauptstadt der Republik angekommen war. Hier ist beinahe alles auf Oberfläche getrimmt, dachte ich, während mein Blick zur gläsernen Hallendecke flog, durch die sich das Licht an diesem sehr späten Nachmittag etwas schmutzig in den Raum ergoss, wie das Stimmengewirr um mich herum: „Koofen se, koooofen se, … nur vier Euro fufzig …kooofen se, …!!!“ Die Rolltreppe beförderte mich in den ersten Stock auf die Galerie. Ich wollte „det Janze“ mal von oben begutachten. … Es blinkt und blitzt, die Beleuchtung spiegelt sich in den Schaufenstern und die wenigen Besucher verlieren sich hier mit ihren Tüten und Paketchen wie die letzten Arbeitsdrohnen eines Ameisenvölkchens in den unendlichen Weiten eines undurchschaubaren Labyrinths. Um dem imposanten Raumeindruck noch eine Perspektive hinzuzufügen, sind hier die Rückseiten der aufwärts strebenden Rolltreppen verspiegelt. Ein flüchtiger Blick in diesen spiegelverkehrten „Himmel“ führt den abwärts fahrenden Besuchern noch einmal ihre eigene Bewegung im Kopfstand vor Augen. Was für eine irritierende Parallelwelt, vor allem für Gemütsmenschen wie mich, die es gewohnt sind, beim Gemüsehändler um die Ecke einzukaufen. Hier ist alles in Bewegung und der Blick ist bald „so müd geworden, dass er nichts mehr hält“, während die ausgestellten Schaufensterwaren im Leuchtfeuer der Neonlampen das Augenlicht trüben … „Koofen se, koooofen se, nur vier Euro fufzig … !!!“

 

 

nichts ist wie es scheint

Nichts ist, wie es scheint … Tagtraum I

Wiesbaden/Hbf.: Eine Treppe, die zu zerfließen beginnt, in der Abwärtsbewegung ein Kind, das sich noch einmal umwendet, offenbar erstaunt, aber dennoch heiter, während eine Schattengestalt auf einem Roller aus den Augenwinkeln und ins Nichts zu entfliehen scheint. Ein sicherer Halt wäre vielleicht das Treppengeländer, wenn es nicht schon selbst deformiert wäre und keine Führung mehr besäße. Mit dem Schatten würde es jetzt wohl in dessen Schlepptau mit in die Dunkelheit gezogen werden, wenn der Fotograf vor den Spiegeln diese merkwürdige Begebenheit nicht bloß geträumt hätte … leu

 




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Ein Altersportrait – Tagtraum II

Wiesbaden/Hbf: Am Anfang muss einmal der aufrechte Gang gestanden haben: Ich gehe, also bin ich. So fühlen wir uns mit einiger Berechtigung erhaben, indem wir in der Lage sind, auf unseren Wegen über alles hinweg zu eilen. „Vor uns liegen die Mühen der Ebenen,“ heißt es bei B. Brecht. Ich sehe die Gebirge längst nicht überwunden. Früher oder später geraten wir mitunter aus dem Gleichgewicht oder verlieren unsere Bodenhaftung, unser Gang wird unsicher, stockend, schwer … und eine Treppenstufe zu einem Schwindel erregenden Abgrund. leu




 



Zivilisierter Nihilismus

„Ich trat in ein üppiges Schlemmergeschäft ein, weil eine im Schaufenster ausgestellte, ganz besondere, violette Art von Endivien mir aufgefallen war. Es überraschte mich nicht, daß der Verkäufer mir erklärte, die einzige Sorte Fleisch, für die dieses Gericht als Zukost in Frage käme, sei Menschenfleisch – ich hatte das vielmehr schon dunkel vorausgeahnt.
Es entspann sich eine lange Unterhaltung über die Art der Zubereitung, dann stiegen wir in die Kühlräume hinab, in denen ich die Menschen, wie Hasen vor dem Laden eines Wildbrethändlers, an den Wänden hängen sah. Der Verkäufer hob besonders hervor, daß ich hier durchweg auf der Jagd erbeutete, und nicht etwa in den Zuchtanstalten reihenweise gemästete Stücke betrachtete: ‚magerer, aber – ich sage das nicht, um Reklame zu machen – weit aromatischer‘. Die Hände, Füße und Köpfe waren in besonderen Schüsseln ausgestellt und mit kleinen Preistäfelchen besteckt. Als wir die Treppe wieder hinaufstiegen, machte ich die Bemerkung: ‚Ich wußte nicht, daß die Zivilisation in dieser Stadt schon so weit fortgeschritten ist‘ – worauf der Verkäufer einen Augenblick zu stutzen schien, um dann mit einem sehr verbindlichen Lächeln zu quittieren.“ Aus: Ernst Jünger, Das abenteuerliche Herz

Auf der Ramschkiste einer Buchhandlung ist mir neulich der Satz begegnet: „Täglich frisch: saftige Bücher zu mageren Preisen!“ Mir lag der Gedanke nahe, ob es hier auch Hirn gäbe, stellte mir aber sogleich die verkaufsfördernde Antwort des Buchhändlers vor: „Gehackt oder am Stück?“ Wer das verdaut, braucht einen guten Magen: Ein Pfund Goethe, aber bitte schön abgehangen! – Darf es noch etwas Aufschnitt sein? Heute im Angebot: „Der Untergang des Abendlandes“ ... oder vielleicht etwas Pikantes aus den „Feuchtgebieten“? ... Manchmal erweisen sich die Paradiese der am weitesten fortgeschrittenen Kultur als trügerischer Abgrund. Was bleibt ist das Unmaß merkantiler Interessen, unter denen das Humane im Namen der Freiheit zum „Humankapital“ degenerierte. Kein Ort, an dem nicht ein Rechenschieber sein egalitäres Regiment führte, kein Bewusstsein, in das nicht die Wirkmacht des Geldes schwindelerregend hineinregierte, kein Traum vom individuellen Glück, der nicht schon von Verkaufspsychologen werbewirksam antizipiert worden wäre. ... Aber was nutzt es, sich auf den Menschenmärkten unter zivilisierten Kannibalen so ungebührlich wie ein Vegetarier aufzuführen? leu

 

 

eros und tanatos dsf1955 2Eros und Tanatos im Trödelladen

Kassel/2014: In der Einfahrt stand der Anhänger eines vor sich hin dämmernden Leichenwagens zum Verkauf, „Blickfang auf jedem Campingplatz“, wie man uns beteuerte, eine Schlafgelegenheit für rund 1500 Euro mit Aufmerksamkeitswert. Im labyrinthisch verschlungenen Laden hatte sein Besitzer eine merkwürdig bizarre Märchenwelt aus abgelegten Träumen zusammengetragen, die hier nun ihr Eigenleben führen. Unter einer billigen Darstellung des „Abendmahls“ räkelte sich jene ausrangierte Schaufenstervenus schlaftrunken-lasziv in den Tag hinein. Ein surreales Bild, das den Ladeninhaber selbst wohl trefflicher charakterisiert als 
eine Portraitaufnahme desselben es jemals vermocht hätte. …