9 konsum iiIm Reich der Zwecke hat alles
seinen Preis oder seine Würde.
I. Kant





Streifzug durch den historischen Schilderwald

Poetischer Glanz

der "guten alten Zeit"

Das erleuchtete Schaufenster als Bühne, die Straße als der dazugehörige Theatersaal und die Passanten als Publikum: der Schauplatz eines nimmermüden Nachtlebens, die Illumination als Köder für den Blick der Massen, einer Choreographie aus Neonglanz, die das künstliche Licht selbst zur frohen Botschaft erhebt. Sie geben das festliche Schauspiel einer elektrifizierten Welt der urbanen Nervenzentren: Megalopolis, the big city im Widerschein lichtanimierter Reklame und deren schrillen Erlebniswelten, Glücksversprechen im Zeichen einer allgemeinen Mobilmachung, die den Stadtbewohner auf Rollbändern oder in Hochgeschwindigkeitsaufzügen wie einen Passagier im eigenen Heim zum Platz an der Sonne befördern ... „Schnell“ ist das Schlagwort für die tägliche Mahlzeit und die kulinarischen Sendboten plakatieren weithin sichtbar eine Form der „Gastlichkeit“, die kaum mehr dem eigentlichen Wortsinn gerecht wird. Kaum eine Behaglichkeitsadresse ohne „Gimmick“ und Lifestyle-Attitüde, Ruheoasen im Wartesaal einer Instant-Küche lassen die Seele baumeln.

Wie fossile Überreste einer längst versunkenen Zeit, in der es noch möglich war, sich die Welt zu Hause zu erwandern, muten dagegen jene Botschaften an, mit denen Läden und Gasthäuser einst Käufer oder Einkehrwillige lockten. Prächtige schmiedeeiserne Wirtshaus- und Firmenschilder gehören auch heute noch zum charmanten Inventar jeder Altstadtarchitektur; und gerade jene Städte, die noch deutlich von engen Straßenzügen und mittelalterlichen Stadtmauern geprägt sind, bieten eine beeindruckende Vielfalt dieser frühen Sinnbilder geselliger Freuden, gastlicher Aufnahme oder einer gepflegten handwerklichen Tradition der Zünfte, die sich ihr Renommee selbstbewusst als Fassadenschmuck ornamentieren ließen.

Je weiter sich der Reisende von den großen Metropolen entfernt, desto häufiger begegnen ihm solche kunstvoll gestalteten „Werbe“-Schilder. Und in manchen Gemeinden, die besonders im Flair ihrer historischen Butzenscheiben- und Fachwerkromantik aufblühen, sind diese Wahrzeichen der „guten alten Zeit“ indes schon obligatorisches Beiwerk. Da hängt selbst der Friseur denn schon einmal die Barbierschale vor‘s Schaufenster, um zum doppelten Rittberger auf der Kopfhaut zu laden, Schmuck- und Devotionalienhändler erheischen mit altertümelndem Zierrat Aufmerksamkeit und so genannte „Landgasthöfe“ schmücken sich gerne mit jenen Reminiszenzen, die für die Solidität einer Jahrzehnte beziehungsweise Jahrhunderte alten Tradition bürgen sollen. Was hier als Lockmittel allzu oft den Niederungen von Marketingstrategien entsprungen scheint, lässt kaum noch erahnen, dass die hehre Schilderpracht einstmals jedem Reisenden in Form von Zeichen und Schriften auf eine besondere Adresse oder außergewöhnliche Leistungen aufmerksam machte. Vielleicht mag es dem Wandergesellen damals ergangen sein, wie dem Schneider Strapinski in Gottfried Kellers „Kleider machen Leute“, der, als er die Aufschriften der Häuser las, der Meinung war, „sie bezögen sich auf die besonderen Geheimnisse und Lebensweisen jedes Hauses und es sähe hinter jeder Haustüre wirklich so aus, wie die Überschrift angab, so dass er in ein moralisches Utopien hineingeraten wäre“. Das „Sinnbild der Waage“, einem Gasthaus, in das Keller seinen Schneider absteigen lässt, scheint dem Helden anzudeuten, „dass dort das ungleiche Schicksal abgewogen und ausgeglichen und zuweilen ein reisender Schneider zum Grafen gemacht würde“.
Auch wenn Keller schon in seiner Zeit Schein und Sein aus dem eidgenössischen Schilderwald mit entlarvendem Humor herauszulesen versteht, deutet dessen positive Kehrseite auf einen durchaus realen Hintergrund. Wirtshausschilder und deren Vorläufer waren nie Selbstzweck, sie vermittelten dem Durchreisenden eine eindeutig zu lesende Botschaft, die, anders als für Kellers fiebrig-phantasierenden Schneidergesellen, keiner Interpretation bedurften. Die ursprünglichsten Zeichen dieser Art sind Bäumchen und grüne Äste, die man in einem Kübel mit Wasser vor‘s Haus stellte, beziehungsweise als Maien-Strauß oder -Kranz an die Fassade hängte. Wo frisches Grün, sinnbildlich für den Zyklus des Lebens, nicht zur Hand war, hängte man Strohbuschen oder Besen auf. Eine Sitte, mit der übrigens schon die Römer die Zeit des Weinausschanks angezeigt haben. Der Brauch hat sich bis in unsere Tage etwa in der Gegend um Wien oder in der Pfalz und in Rheinhessen erhalten, wo man noch „Buschen- oder Straußwirtschaften“ finden kann. Auch die Fahne als Friedenszeichen diente dazu, Herberge oder Ausschank anzuzeigen. Daneben war es in früheren Zeiten bei manchen Gasthöfen Usus, an Schlachttagen eine Schweinsblase oder eine blaue Schürze über den Eingang zu hängen. Wirtshausbezeichnungen wie „Die blaue Schürze“, „Zum grünen Baum“ oder „Zum grünen Kranz“ und Hauszeichen, die mit einem Reif oder Kranz verziert sind, erinnern heute noch auf einigen Gasthofschildern an diese Traditionen. Vor allem in Ortschaften, die gleich mehrere Wirtshäuser aufzuweisen hatten, reichten die bloßen Gastlichkeitssymbole bald nicht mehr aus. Der Konkurrenzdruck verlangte nach ausgefallenen Namen und Wahrzeichen: So winkten dem Reisenden „Kuriositäten“ wie Elefanten, Kamele, Hahn oder Kranich zur Einkehr, Symbole mit Aufmerksamkeitswert, die ebenso auf antike Ursprünge zurückgehen wie zum Beispiel Löwe und Adler, die römischen Zeichen der Macht. Besonders in England hat sich das bei den Römern beliebte Schachspiel in manchen Wirtshausschildern, den so genannten „chequers“, bewahrt. Aber auch christlich-religiöse Motive prägen die Sprache der Gasthofschilder und -Namen: „Arche Noah“, „Walfisch“, „Lamm“ oder „Krone & Stern“ als Zeichen für die Heiligen Drei Könige signalisierten dem ankommenden Reisenden Schutz des Himmels und eine Raststätte für Erdenpilger. Moralinsauer wird zur Zeit der Aufklärung plakatiert, als müssten die fröhlichen Zecher beim Blick in‘s Weinglas vom kategorischen Imperativ träumen: Beim „Paritätswirt“ in Augsburg muss wohl ein Philantrop hinterm Tresen gestanden haben und im Wirtshaus „Zur Toleranz“ wird zur brüderlichen Umarmungsgeste aufgerufen. Weitab von himmlischen Versprechungen und moralisch verbrämtem Aufklärungseifer findet das 19. Jahrhundert auch im Zuge der Industrialisierung zu eher profanen Bezeichnungen. Beliebt sind außerdem nationale Symbole, mit denen eine zeitgemäße Gesinnung zum Ausdruck gebracht werden sollte. Ob es nun ein Vorzug war, im „Landgraf“, gar im „Kaiser“ oder geschichtsmächtig im „Barbarossa“ zu logieren oder einfach nur das Ziel einer Einkehr im Wirtshaus „Zur Kanne“ oder „Zum Fass“ im Sinn zu haben, sei einmal dahingestellt. Sicher ist, dass die Namensgebungen und Schilder im Lauf der Jahrhunderte ebenso an Originalität wie an gestalterischer Liebe zum Detail verloren haben. Handarbeit wurde von Gussware verdrängt, die gesamte Hausfront durch Bemalung oder Beschriftung als Werbefläche genutzt. Zu den wenigen auch kunstgeschichtlich interessanten Lichtblicken gehören in diesen Zeiten Handwerksarbeiten, mit denen heute berühmte Künstler wie Chardin, Gericault oder Courbet ihre Zeche bezahlt haben.
Eine ähnliche Entwicklung lässt sich bei den Verkaufsläden selbst beobachten: Das schmucklose Aussehen der Läden, die im 19. Jahrhundert nicht viel mehr waren als ein Vorraum zu einem dahinter liegenden Warenlager, wurde zunächst durch die prächtigen, weit ausladenden Schilder, die in der Straße anzeigten, was es hier zu kaufen gab, kompensiert. Als man im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts entdeckte, dass die Aushängeschilder den Verkehr behinderten, verschwanden diese phantasievollen Vorläufer der modernen Reklamewelt allmählich aus dem Straßenbild. Die Farbenpracht und der ästhetische Aufwand der Ladenschilder verschwanden auf der Straße, um in veränderter Form im Innern des Ladens wieder aufzuerstehen. Zur gleichen Zeit entwickelte sich in den europäischen Metropolen die damals neuartige Verbindung von Ästhetik und Handel, einem Luxushandel für betuchte Bürger und vor allem für die höfische Aristokratie, die nach exklusiven Ladenausstattungen verlangten. Von hier aus ist es jetzt nur noch ein kleiner gedanklicher Schritt zu den heilversprechenden, lichtdurchfluteten Reklamewelten unserer Tage. Denn mit Einführung der Gasbeleuchtung und schließlich durch die Erfindung des elektrischen Lichts, gerieten die traditionellen Wirtshausschilder vollends aus dem Blick. Dagegen ließe sich allenfalls ein totaler Blackout erträumen, der die Poesie dieser phantastischen Gebilde wieder ins Blickfeld rücken würde. Manchmal kann ein Stromausfall auch etwas erhellendes haben. leu

Erstveröffentlichung in „Reisen & Genießen“, hier in einer modifizierten Fassung.